Was bringt uns die ICD-11-Klassifikation in der Praxis?

ICD 11 WHO BuchDie Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Juni 2018 die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (engl. International Classification of Diseases) ICD-11 vorgestellt. Seit dem 01.01.2022 ist diese neue Klassifikation offiziell in Kraft getreten. Nach einer Übergangsfrist von 5 Jahren soll sie die ICD-10 in allen Bereichen (Diagnostik, Abrechnung, Statistiken, internationale Vergleiche etc.) vollständig abgelöst haben. 

Der Weg in die Praxis war lang für die ICD-11 und die Gründe dafür sind vielfältig. Man hatte sich viele ehrgeizige Ziele gestellt:

  • strukturelle Umgestaltung
  • verbesserte Digitalisierung
  • wissenschaftliche Aktualisierung
  • detailliertere Beschreibung von Krankheits- / Störungsbildern
  • bessere Vergleichbarkeit der Diagnosen aus ICD und DSM

An der Erarbeitung waren viele Experten aus den einzelnen Mitgliedsländern der WHO beteiligt und es entstand anstelle eines Buches eine digitale Plattform, die künftig flexiblere Anpassungen ermöglichen wird.

Inhaltlich lassen sich im Überblick u.a. folgende Veränderungen erkennen:

  • Es entstanden neue Kapitel, weil bisherige Inhalte neu gruppiert / zugeordnet wurden, so werden z.B. Schlafstörungen nicht mehr unterteilt in organische und nicht-organische Ursachen und sind jetzt im Kapitel 07 zu finden
  • „Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit“ wurden aus dem Kapitel der psychischen Erkrankungen herausgenommen und eigenständig im Kapitel 17 dargestellt
  • Umbenennungen sollen einer Stigmatisierung bestimmter Krankheiten entgegenwirken
  • Burnout wird als Berufsphänomen nicht mehr als Krankheit definiert
  • Das Kapitel 26: „Traditionelle Medizin“ wurde aufgenommen

Ich möchte hier nun näher auf die Veränderungen im Bereich der psychischen Erkrankungen eingehen, die sich zunächst einmal stichwortartig so benennen lassen:

  • Neue Codierungen
  • veränderte diagnostische Leitlinien
  • Aufnahme neuer Krankheitsbilder
  • Erstellung der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ in 3 Stufen (siehe dazu gesonderten Blog-Beitrag)

Aus der bekannten Klassifikation im Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ mit der Zahlencodierung F00 – F99 in der ICD-10 wird in der ICD-11 das Kapitel 06 „Psychische, Verhaltens- oder neurologische Entwicklungsstörungen“.

Neben einer veränderten Codierung gibt es jedoch auch inhaltliche Veränderungen bei der Zuordnung einer Diagnose. So fehlen in den diagnostischen Leitlinien beispielsweise Angaben in der Form, wie viele Symptome vorliegen müssen, damit die Diagnose vergeben werden kann. In den wesentlich offener formulierten Kriterien wird bewusst Wert darauf gelegt, der Person und ihrer individuellen Situation besser gerecht zu werden, statt sich an formalen Zahlenwerten zu orientieren.

Beispiel: Beschreibung Kategorie Depressionen in der ICD-11

„Depressive Störungen sind gekennzeichnet durch depressive Verstimmung (z. B. traurig, gereizt, leer) oder Lustverlust, begleitet von anderen kognitiven, verhaltensbezogenen oder neurovegetativen Symptomen, die die Funktionsfähigkeit des Individuums erheblich beeinträchtigen. Eine depressive Störung sollte nicht bei Personen diagnostiziert werden, die jemals eine manische, gemischte oder hypomanische Episode erlebt haben, die auf das Vorliegen einer bipolaren Störung hinweisen würde.“

Beschreibung der Kriterien für eine Einzelepisode Depression (6A70):

„Eine depressive Einzelepisode ist durch das Vorliegen oder die Vorgeschichte einer depressiven Episode gekennzeichnet, wenn keine früheren depressiven Episoden in der Vorgeschichte vorliegen. Eine depressive Episode ist gekennzeichnet durch eine Phase depressiver Stimmung oder vermindertem Interesse an Aktivitäten, die den größten Teil des Tages, fast jeden Tag, während eines Zeitraums von mindestens zwei Wochen auftreten, begleitet von anderen Symptomen wie Konzentrationsschwierigkeiten, Gefühlen der Wertlosigkeit oder übermäßigen oder unangemessenen Schuldgefühlen , Hoffnungslosigkeit, wiederkehrende Todes- oder Selbstmordgedanken, Appetit- oder Schlafveränderungen, psychomotorische Unruhe oder Retardierung und verminderte Energie oder Müdigkeit. Es gab noch nie zuvor manische, hypomanische oder gemischte Episoden, die auf das Vorliegen einer bipolaren Störung hinweisen würden.“

Zur Veranschaulichung sehen Sie hier, wie Depressionen bzw. depressive Störungen im ICD-11 vollständig aufgeführt werden:

6A7 Depressive Störungen

6A70 Einzelne depressive Episode (ICD-10 F32)

6A71 Rezidivierende depressive Störung (ICD-10 F33)

6A72 Dysthyme Störung (ICD-10 F34.1)

6A73 Gemischte Depressive- und Angststörung (ICD-10 F41.2)

6A7Y Andere spezifische depressive Störungen

6A7Z Unspezifische Depressive Störungen

Es erfolgt auch in der ICD-11 eine Unterteilung der einzelnen depressiven Episode und der rezidivierenden depressiven Störung nach dem aktuellen Schweregrad.
Beispielhaft stelle ich dies hier für eine einzelne depressive Episode dar:

Einzelne depressive Episode: ICD-11 6A70

6A70 Einzelne depressive Episode (ICD-10 F32)

6A70.0 Leichte depressive Episode (ICD-10 F32.0)

6A70.1 Mittelgradige depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10 F32.1)

6A70.2 Mittelgradige depressive Episode mit psychotischen Symptomen

6A70.3 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10 F32.2)

6A70.4 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10 F32.3)

6A70.5 Einzelne depressive Episode, Schweregrad nicht spezifiziert

6A70.6 Einzelne depressive Episode, gegenwärtig teilweise remittiert

6A70.7 Einzelne depressive Episode, gegenwärtig voll remittiert

6A70.Y Sonstige depressive Episoden (ICD-10 F32.8)

6A70.Z Depressive Episode, nicht näher bezeichnet (ICD-10 F32.9)

 

Ergänzt wird das Kapitel 06 um folgende neu aufgenommene Krankheitsbilder:

  • Katatonie
  • Bipolare Typ-II-Störung
  • Körperliche dysmorphe Störung
  • Olfaktorische Referenzstörung
  • Hortenstörung
  • Exkoriationsstörung (Hautpickingstörung)
  • Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung
  • Anhaltende Trauerstörung
  • Binge Essstörung
  • Vermeidende / restriktive Störung der Nahrungsaufnahme
  • Dysphorie der Körperintegrität
  • Prämenstruelle dysphorische Störung
  • Zwangsstörung des sexuellen Verhaltens
  • Spielstörung