Grundformen der Angst nach Fritz Riemann

Grundformen der AngstWarum brauchen einige Menschen viel Kontakt bzw. Nähe und anderen schnürt das wiederum die Luft ab? Warum fühlen sich einige Menschen nur wohl, wenn alles genau geordnet bzw. geregelt ist und andere fühlen sich davon wieder eingeengt?

Vor etwa 50 Jahren erschien mit „Grundformen der Angst“ eines der wegweisendsten Bücher in der Psychologie. Fritz Riemann beschreibt darin die vier Formen der Angst. Zudem erläutert er auch die dazugehörigen Persönlichkeiten. Er geht insbesondere darauf ein, warum manche Menschen eher Distanz oder Nähe suchen, aber auch ob wir eher etwas Dauerhaftes suchen oder lieber den ständigen Wechsel.

Was ist Angst überhaupt?

Wird die Angst genauer betrachtet, hat sie grundsätzlich einen Doppelaspekt. Auf der einen Seite kann sie den Menschen lähmen, auf der anderen ihn aber auch aktiv machen. Angst ist immer die Warnung vor einer Gefahr und enthält daher stets ein Signal. Zudem gibt sie einen Impuls, sie zu überwinden. Wird die Angst angenommen und gemeistert, dann entwickelt sich der Mensch weiter. Wenn allerdings der Angst ständig ausgewichen wird (Vermeidungsverhalten), kommt es zu einer Stagnation, die die Weiterentwicklung behindert. Wir bleiben sozusagen dort kindlich, wo die Schranke der Angst nicht überwunden wird.

Generell tritt Angst immer nur in Situationen auf, denen wir bis jetzt noch nicht gewachsen sind. Jeder Entwicklungsschritt ist mit einer gewissen Angst verbunden. Der Angst vor etwas Neuem, das wir bisher noch nicht erlebt haben. Alles noch nicht da Gewesene hat aber auch einen gewissen Reiz und weckt die Lust auf ein Abenteuer. Im Leben gibt es immer wieder ungewohnte Situationen, daher ist die Angst unser treuer Begleiter. Besonders stark ist sie, wenn Menschen dabei sind, gewohnte Pfade zu verlassen und sich einer Wandlung unterziehen möchten. Egal in welchem Alter, es gibt immer wichtige Entwicklungs- bzw. Reifungsschritte, die die Überwindung der Angst mit sich bringt. Soll dieser Schritt gelingen, dann muss die dazugehörige Angst gemeistert werden.

Im Prinzip gibt es vier Möglichkeiten, um mit der Lebenssituation umzugehen. Menschen können sie akzeptieren bzw. sich mit ihr liebend identifizieren oder sie können sich von der Situation distanzieren. Andere wiederum nehmen sie auf wie ein Gesetz oder versuchen sie nach ihren Wünschen zu verändern bzw. umzuwandeln.

Die vier Grundformen der Angst

Riemann beschreibt in seinem Buch die Ängste der Menschen und alle Strategien wie diese bewältigt, vermindert, überwunden oder als bindend angesehen werden. Im Folgenden werden diese vier Grundformen genauer beschrieben:

  1. Die Angst vor Selbsthingabe– Diese Angst bringt Menschen dazu sich zu distanzieren.
  2. Die Angst vor Selbstwerdung– Diese Angst lässt Personen die Nähe zu anderen Menschen suchen.
  3. Die Angst vor Wandlung– Veränderungen und Chaos werden schwer ausgehalten. Im Prinzip soll alles so bleiben wie es ist.
  4. Die Angst vor der Notwendigkeit– Menschen haben Angst sich zu binden, Verantwortung zu übernehmen und interessieren sich nicht für die Zukunft.

1. Die Angst vor Selbsthingabe

Bei der ersten Angst geht es um eine eigenständige Persönlichkeit. Diese Menschen haben Angst vor der Selbsthingabe, zu viel Nähe und vor Abhängigkeit. Als Ursache kommt eine nicht befriedigende Bemutterung im Kindesalter infrage. Dadurch erwacht der Wunsch autark zu leben und auf niemanden angewiesen zu sein. Das führt allerdings zu unbegründeter Eifersucht. Zweifel an der eigenen Fähigkeit zu lieben, Zweifel an der Aufrichtigkeit anderer Menschen und zu Kontaktschwierigkeiten. Solche Personen neigen zur Arbeitssucht und werden von anderen als selbstbewusst bis überheblich erlebt. Solche Persönlichkeiten gehen oft Sachberufe oder Berufe in der Wissenschaft bzw. Technik nach.

2. Die Angst vor Selbstwerdung

Menschen, die Angst vor Selbstwerdung haben, lassen sich als beziehungsorientierte „Nähepersönlichkeiten“ klassifizieren. Sie haben Angst vor Ungeborgenheit, Isolation und von Menschen verlassen zu werden. Diese Angst beruht oftmals aufgrund einer Überbemutterung als Kind. Dadurch wächst der Wunsch umsorgt zu werden, sowie jemanden als Stütze zu haben. Sozusagen in einem anderen Menschen aufgehen zu können. Dadurch resultieren aber auch große Verlustängste und Selbstmitleid. Zudem kommt es zu einer überbesorgten bis hin zu einer erpresserischen Liebe, wobei die betroffene Person im schlimmsten Fall dem Partner droht, sich umzubringen, wenn er ihn verlässt. Diese Personen neigen zu einer Habsucht und werden als zuverlässig bis pedantisch von den Mitmenschen erlebt. Besonders wohl fühlen sich solche Persönlichkeiten in disziplinären und ordnenden Berufen.

3. Die Angst vor Wandlung

Die Angst vor Wandlung und Veränderungen kommt vor allem bei beständigen Ordnungspersönlichkeiten vor. Diese haben besonders Angst vor Toleranz, Freiheit, Chaos, Kompromissen und das Eingehen von Kompromissen. Als Ursache ist oft eine Erziehung mit zu starken Regeln und Vorschriften zu nennen. Das führt zum Wunsch, dass alles beim Alten bleibt, denn das ist sicher und bewährt.

Solche Menschen bevorzugen zudem, dass alles seine Norm hat und mit dem Verstand gesteuert wird. Dadurch sind diese Personen sehr konservativ und zeigen einen Mangel an Spontanität sowie Einsicht. Auch die Unentschlossenheit gehört zu den Eigenschaften, die die beständige Ordnungspersönlichkeit ausmachen. Auf andere Menschen wirken sie liebevoll bis vereinnahmend. Darüber hinaus neigen sie zu Eifersucht und haben eine Vorliebe für Berufe im Sozialbereich oder in der Pädagogik.

4. Die Angst vor der Notwendigkeit

Bei der vierten Grundform geht es um die Angst vor der Notwendigkeit, die bei unkonventionellen Freiheitspersönlichkeiten besteht. Als Ursachen können eine mangelnde Vorbildfunktion der Eltern, sprich Ehestreitigkeiten, Bevorzugung bzw. Benachteiligung gegenüber Geschwistern oder Benutzung des Kindes als Ersatz für den Partner, genannt werden. Dadurch wächst der Wunsch, keine finalen Entscheidungen zu treffen, sich nicht festlegen und keine Spannungen ertragen zu müssen.

Solche Persönlichkeiten können keinerlei Frustrationen ertragen und ihre Wünsche müssen immer sofort erfüllt werden. Sie weichen Unangenehmem gerne aus, verdrängen schnell Schuldgefühle und suchen ständig nach Selbstbestätigung. Diese Menschen neigen oftmals zu einer Spielsucht. Von anderen werden sie als spontan bis unzuverlässig erlebt. Besonders in der Forschung, in Kunst und Kultur sowie im Öffentlichkeitsbereich fühlen sie sich beruflich wohl.

Die vier Persönlichkeitstypen

Aus den Grundformen der Angst hat Riemann vier verschiedene Persönlichkeitsstrukturen abgeleitet.

  • Menschen, die als grundlegendes Problem die Angst vor Selbsthingabe haben, zählen zu den schizoiden Persönlichkeiten.
  • Die Angst vor Selbstwerdung entspricht einer depressiven Persönlichkeit.
  • Zwanghafte Persönlichkeitenhaben ständig Angst vor Wandlung.
  • Die Angst vor der Notwendigkeit betrifft dem hysterischen Persönlichkeitstyp.

Nachfolgend werden die einzelnen Typen näher beschrieben.

1. Schizoid

Schizoide Persönlichkeiten fürchten nichts mehr als die Abhängigkeit und die Hingabe. Zudem möchten sie niemanden zu nahe treten oder sich jemanden verpflichtet fühlen. Sie bevorzugen die Ungebundenheit und die Selbstständigkeit. Auf andere wirken solche Personen eher distanziert, kühl, unnahbar und nüchtern. Dabei verlassen sich diese Menschen auf ihren Verstand, denn Gefühle sind für sie unsinnig. Manchmal misstraut er auch anderen Menschen, ist sachlich, kritisch und verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe. Schizoide Persönlichkeiten vertreten ohne Kompromiss ihre Meinung und wenn es sein muss auch mit Aggressionen.

Eigenschaften einer schizoiden Persönlichkeit:

  • kritisch
  • unsentimental
  • ironisch
  • scharfe Beobachtungsgabe
  • sehen die Dinge ohne beschönigende Deckmäntel
  • glauben kompromisslos an ihre Fähigkeiten
  • narzisstisch
  • spüren selbst keinen Leidensdruck
  • misstrauisch
  • denken rational
  • handeln nicht emotional
  • introvertiert
  • distanziert und kühl

2. Depressiv

Menschen, die unter der Angst vor Selbstwerdung leiden zählen zu den depressiven Persönlichkeiten. Sie suchen nicht nur die Nähe zu Menschen, sondern brauchen sie regelrecht. Zudem stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse zurück und sorgen für andere Menschen. Konflikte werden so gut es geht vermieden. Sehr ausgeprägt kann die Anpassungsgabe sein, sogar so sehr, dass sich solche Personen regelrecht unterordnen, bis sie sich selbst nicht mehr wirklich wahrnehmen können. Bei depressiven Charakteren ist die Ichentwicklung sehr gefährdet. Sie sind darüber hinaus unglaublich bescheiden, selbstlos und unterdrücken ihre eigenen Impulse.

Eigenschaften einer depressiven Persönlichkeit:

  • hohes Einfühlungsvermögen
  • hilfsbereit
  • verstehend
  • anspruchslos
  • fürsorglich
  • sehr anhänglich in Beziehungen
  • ruhig
  • können verzeihen
  • empfindet das Leben als schwierig
  • unterdrückt Aggressionen
  • vermeidet Unabhängigkeit

3. Zwanghaft

Zwanghafte Menschen haben Angst vor Wandlung und Veränderung. Am liebsten ist es ihnen, dass in ihrer Umwelt immer alles gleich bleibt. Vergängliches wird immer als Unsicherheit erlebt. Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeit gehen ungern Risiken ein und sichern sich gegen alles ab. Er liebt das Gewohnte, das Vertraute und das Bekannte. Solche Personen planen lange im Voraus und lieben Ordnung bzw. Gesetzmäßigkeit. In gewisser Weise leben solche Menschen eine gewisse „Beamtenmentalität“. Monotone Abläufe und Regeln gehören für sie zum Leben dazu. In einigen Fällen können sich sogar Zwangshandlungen bzw. Zwangssymptome entwickeln. Bestimmte festgelegte Rituale, die immer in einer bestimmten Weise ablaufen, führen dazu, dass sich zwanghafte Menschen wohlfühlen.

Eigenschaften einer zwanghaften Persönlichkeit:

  • zurückhaltend bei Gefühlen
  • ernste Grundstimmung
  • konsequent
  • tüchtig
  • beständig
  • liebt Sauberkeit
  • ausdauernd
  • zielorientiert
  • zukunftsorientiert
  • pflichtbewusst
  • geizig
  • risikoscheu
  • zweifelnd
  • zögerlich

4. Hysterisch

Der Hysteriker möchte gerne der Mittelpunkt der Erde sein und sich gleichzeitig frei bzw. ungebunden fühlen, ohne dabei jegliche Verpflichtung einzugehen. Alles Neue wird als eine große Chance angesehen. Nichts hasst er so sehr wie Regeln, Verbindlichkeiten und Traditionen. Zudem ist er impulsiv, ungeduldig und mag es gar nicht zu warten. Hysterische Persönlichkeiten können Menschen gut mitreißen und mit ihm ist es mit Sicherheit nie langweilig. Er liebt es Risiken einzugehen und sprüht vor Optimismus. Dadurch wirkt er oft oberflächlich, unbeständig und unverlässlich.

Eigenschaften einer hysterischen Persönlichkeit:

  • nimmt nichts ernst
  • risikofreudig
  • mitreißend
  • spontan
  • unternehmungslustig
  • extrovertiert
  • initiativ
  • eigenwillig
  • sieht den Sinn des Lebens darin besonders reich und intensiv zu leben
  • labiles Selbstwertgefühl
  • Mangel an Selbstkritik
  • improvisierend
  • charmant

 

Persönlichkeitstypen nach Riemann

 

Schlussbetrachtung

Die vier Grundängste passen mit den vier Persönlichkeitstypen zusammen und bilden jeweils zwei komplementäre Paarungen, die sich gegenseitig anziehen. Der depressive Mensch ist bezogen auf die schizoide Persönlichkeit ebenso wie der hysterische und der zwanghafte. Riemann war aber weit davon entfernt zu sagen, dass diese Grundängste bzw. Persönlichkeiten unabänderlich sind. Es ist immer möglich, sich mit Selbsterfahrung sowie Reflexion seinen grundlegenden Mustern zu stellen und zu lernen, mit ihnen umzugehen. Für Riemann sind Ängste etwas ganz Normales und gehören zum Leben dazu. Darüber hinaus können Menschen jederzeit ihre Schwächen gezielt stärken und neue Facetten zu ihrer Persönlichkeit hinzufügen.

Generell stehen hinter den vier Grundformen der Angst allgemeine menschliche Probleme, mit denen sich jeder auseinandersetzen muss. Jedem begegnet beispielsweise die Angst vor Hingabe in irgendeiner Form. Diese Angst kommt beispielsweise immer dann vor, wenn wir uns öffnen.

Mit jeder Liebe oder Zuneigung machen wir uns verwundbar und liefern uns ein Stück weit aus. Jede Angst vor Selbsthingabe ist generell mit der Angst vor einem möglichen Ichverlust verbunden.

Auch die Angst vor Selbstwerdung begegnet uns im Leben. Jedes Mal wenn wir uns von anderen herausheben möchten, birgt es die Gefahr, sich selbst zu isolieren und immer einsamer zu werden. Jeder begegnet auch die Angst vor Wandlung. Sie geht einher mit der Angst vor Neuem und der Vergänglichkeit. Je stärker wir etwas versuchen festzuhalten, desto größer wird auch die Verlustangst. Die Angst vor der Notwendigkeit bzw. vor der Härte begegnet uns auch in verschiedener Weise. Je freier wir sein möchten, desto mehr sind auch die Konsequenzen zu fürchten.

Ängste lassen sich in unserem Dasein nicht umgehen, sie sind sogar wichtig für die reifende Entwicklung. Es ist wichtig sich mit den Ängsten auseinanderzusetzen. Zudem sollten sie nicht als notwendiges Übel, sondern als Faktor für die weitere Entwicklung angesehen werden. Wenn große Ängste auftauchen sollte versucht werden diese anzunehmen, zu überwinden und bei Bewältigung als Sieg zu feiern. Jedes Ausweichen einer Angst hingegen ist eine Art Niederlage, die uns schwächt.

(Quelle für den Text: https://www.angst-verstehen.de/grundformen-der-angst-nach-fritz-riemann/)


Weiterführende Empfehlungen:

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2. Sendung des SWR2: „Fritz Riemann – Grundformen der Angst“