Suizidalität
Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 9.000 Menschen durch einen Suizid. Die Anzahl der Suizidversuche liegt noch um ein Vielfaches höher. Hinzu kommt eine nicht unerhebliche Dunkelziffer, da Suizidgedanken oder Suizidhandlungen häufig verschwiegen werden und nicht jeder Suizid(versuch) klar als solcher zu erkennen ist. Beispiel: Unfälle im Straßenverkehr können „verdeckte“ / larvierte Suizide (Suizidversuche) sein.
Wenn wir über das Thema Suizidalität sprechen, dann sprechen wir über eine unfassbare Anzahl von Menschen, die existenzielle Krisen erleben und manchmal leider auch nicht überleben. Bei der Beschäftigung mit dieser Thematik sollten wir uns immer bewusst machen, dass JEDER im Laufe seines Lebens in eine solche Krise geraten kann, die KEIN Ausdruck persönlicher Schwäche ist.
Was ist Suizidalität?
Von Suizidalität spricht man, wenn das Erleben und Verhalten eines Menschen darauf abzielt, den eigenen Tod bewusst herbeizuführen – aktiv oder passiv. Eine solche Suizidalität kann einmalig auftreten oder chronisch werden. Chronische Suizidalität bedeutet, dass die Betroffenen immer wieder suizidale Gedanken und Absichten entwickeln und meist bereits einen oder mehrere Suizidversuche unternommen haben.
Was sind Suizidgedanken?
Suizidgedanken entstehen, wenn der psychische Leidensdruck eines Menschen Überhand gewinnt. Dann können sich Gedanken einstellen wie "Welchen Sinn hat das alles noch?", "Es wäre besser, tot zu sein" oder "So will ich nicht weiterleben". Diese Gedanken können in puncto Häufigkeit und Intensität stark variieren. Je öfter sie auftreten und je drängender sie sind, desto stärker geraten Alternativen zum Selbstmord aus dem Blick der Betroffenen.
Suizidalität-Stadien nach Pöldinger
Ein bewährtes Modell zur Verlaufsbeschreibung der Suizidalität ist das Stadien-Modell des österreichischen Psychiaters Walter Pöldinger. Es gliedert die suizidale Entwicklung in drei Phasen:
1. Erwägung
Typisch für die erste Phase sind wiederholte suizidale Gedanken sowie der soziale Rückzug der Betroffenen. Zudem werden suizidale Ereignisse, zum Beispiel in den Medien oder im eigenen Umfeld, stärker bzw. selektiver wahrgenommen. Die Betroffenen können sich in dieser Phase aber noch von ihren suizidalen Gedanken distanzieren, sie sind noch fähig zur Selbststeuerung. Oft senden sie versteckte Signale aus, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen.
2. Ambivalenz
Im zweiten Stadium sind die Betroffenen nicht mehr fähig, sich von ihren suizidalen Gedanken zu distanzieren, die Selbststeuerung ist nicht mehr möglich. Ihre Gedanken kreisen immer stärker um den Suizid, der Raum für andere Gedanken schwindet. Die Betroffenen ringen mit sich zwischen Selbsterhaltung und Selbsttötung. Häufig äußern sie ihre Suizidgedanken in dieser Phase erstmals gegenüber Angehörigen oder Freunden bzw. suchen Kontakt zu einem Arzt.
3. Entschluss
In der letzten Phase ist die Selbststeuerung weiterhin ausgesetzt. Die Betroffenen wirken jetzt häufig gelöst und entspannt, da die Last der Entscheidung weggefallen ist. Die Gefahr für Laien, angesichts dieser Veränderung von einer Verbesserung der psychischen Verfassung auszugehen, ist groß. Tatsächlich treffen die Betroffenen in diesem Stadium jedoch konkrete Vorbereitungen für den Suizid. Sie formulieren möglicherweise ihr Testament, verabschieden sich von Familie und Freunden oder kündigen eine längere Reise an. Solche Warnsignale sollte man sehr ernst nehmen!
Schweregrade der Suizidalität
Anhand der Ausprägung der Suizidgedanken lässt sich Suizidalität in drei Schweregrade unterteilen:
Schweregrad 1: Passive Todeswünsche, Wunsch nach Ruhe, Lebensüberdruss
Schweregrad 2: Konkrete Suizidgedanken, jedoch ohne Planung
Schweregrad 3: Imperative und /oder drängende Suizidgedanken, konkrete Planungen / Vorbereitungen
Suizidalität: Ursachen und Risikofaktoren
Suizide werden in mehr als 90 Prozent der Fälle infolge einer psychischen Erkrankung verübt. Bei mehr als 50 Prozent davon handelt es sich um eine Depression. Die damit verbundenen Symptome wie Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle, innere Leere und die Unfähigkeit, Freude zu empfinden, machen die Betroffenen besonders anfällig für suizidale Gedanken, Absichten und Handlungen.
Auch Schizophrenie, bestimmte Persönlichkeitsstörungen wie Borderline sowie Suchterkrankungen steigern das Suizid-Risiko.
Weitere Risikofaktoren der Suizidalität sind zum Beispiel:
- Suizide oder Suizidversuche in der Familie
- eigene Suizidversuche in der Vergangenheit
- Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Randgruppen
- Arbeitslosigkeit
- finanzielle Probleme
- Gewalterfahrungen
- Trennung vom Lebenspartner
- Tod naher Angehöriger
- zunehmendes Alter
- Einsamkeit/soziale Isolation
- körperliche Erkrankungen, insbesondere solche, die mit Schmerzen verbunden sind
Suizidalität: Symptome und Warnsignale
Woran lassen sich Suizidalität und Suizidgedanken erkennen? Es gibt einige Symptome und Alarmzeichen, die auf einen geplanten Suizid hinweisen können, vor allem:
- sozialer Rückzug
- direkte oder indirekte Äußerung von Suizidgedanken
- äußerliche Veränderungen, zum Beispiel dunkle Kleidung, ungepflegtes Erscheinungsbild
- Vernachlässigung von Ernährung und Körperpflege
- riskante Verhaltensweisen
- Abschied nehmen, persönliche Dinge verschenken, ein Testament vorbereiten
- Lebenskrisen
Von akuter Suizidalität spricht man, wenn die Betroffenen intensive lebensmüde Gedanken und konkrete Suizidabsichten haben, so dass eine akute Suizidhandlung droht. An folgenden Anzeichen lässt sich akute Suizidalität erkennen.
Der Betroffene...
- hält auch nach einem längeren Gespräch an seinen Suizidabsichten fest
- hat drängende Suizidgedanken
- ist hoffnungslos
- ist sozial isoliert oder hat sich kürzlich stark zurückgezogen
- leidet an einer akuten psychotischen Episode
- hat schon einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich
Suizidgedanken - Was tun?
Suizidale Gedanken sollten immer ernst genommen werden – von den Betroffenen selbst, aber auch von Angehörigen und Freunden. Leider ist noch das Vorurteil weit verbreitet, wonach jemand, der davon spricht, sich das Leben zu nehmen, dies nicht tut. Das ist falsch! Es ist sogar oft das Gegenteil der Fall. Viele lebensmüde Menschen kündigen ihren Suizid – direkt oder indirekt - an, etwa durch Äußerungen wie "Das macht alles keinen Sinn mehr", "Ich kann nicht mehr" oder Ähnliches.
Wenn Sie sich selbst in einer ernsthaften Krise befinden, suchen Sie bitte Hilfe, indem Sie mit einer Vertrauensperson ein offenes Gespräch führen. Ist dies allein nicht (mehr) ausreichend, weil möglicherweise die Suizidalität bereits stark ausgeprägt ist, wenden Sie sich bitte umgehend an Ärzte, Therapeuten, Kliniken oder Beratungsstellen in Ihrer Nähe,
die Sie kurzfristig fachkundig unterstützen können.
Eine Übersicht möglicher Anlaufstellen finden Sie u.a. auch hier auf der Homepage unter:
https://www.freiraum-psychologische-beratung.de/index.php/informationsmaterial/linksammlung
Hinweise für Angehörige / Freunde zum Umgang mit Suizidalität
Sie bemerken eines oder mehrere der oben genannten Symptome und Anzeichen bei einem Angehörigen, Freund oder Bekannten? Dann sollten Sie handeln und das Thema ansprechen.
Die in diesem Zusammenhang bestehende Befürchtung, dass durch das Ansprechen der eigenen Wahrnehmung ein Suizid(versuch) ausgelöst wird, kann aus der Praxis heraus entkräftet werden. Häufig erleben es die betroffenen Menschen als Entlastung, wenn sie über ihre Gedanken und Gefühle sprechen können.
Wichtig ist dabei, dass Sie in diesen Gesprächen:
- ruhig und sachlich agieren
- Ihr Gegenüber ernst nehmen
- aufmerksam und empathisch zuhören
- nicht bewerten, was gesagt wird
- keine schnellen, oberflächlichen und pauschalen Ratschläge geben wie z.B.
„Das wird alles wieder gut.“ ; „Jetzt reiß dich mal zusammen.“; „Andere haben es viel schwerer und schaffen es auch.“; „Du musst es nur wirklich wollen, dann geht es dir auch besser.“
Bieten Sie dem Betroffenen Ihre Hilfe an, unterstützen Sie beispielsweise die Vereinbarung von Arztterminen und / oder begleiten Sie ihn dort hin. Hilfsangebote sollten jedoch immer nur in einem Rahmen abgegeben werden, der auch eingehalten werden kann. Ansonsten besteht die Gefahr, dass es zu Enttäuschungen kommt, die die Krise unter Umständen verstärken.
Aus meiner Erfahrung heraus möchte ich Ihnen gern den Rat mit auf den Weg geben, unbedingt gut auf sich selbst zu achten und die emotionale Belastung nicht zu unterschätzen,
die für Sie entsteht, wenn Sie einen Menschen in der Krise unterstützen. Versuchen Sie daher nach Möglichkeit, weitere Helfer „mit ins Boot“ zu holen. Je nachdem wie ausgeprägt die Suizidgefährdung bereits ist, können das Familienmitglieder und Freunde oder professionelle Helfer sein.
Ärztliche Behandlung bei akuter Suizidalität
Zur Behandlung von akuter Suizidalität werden zunächst meist dämpfende, beruhigende Medikamente eingesetzt. Ist die akute Gefährdung abgeklungen, schließen sich psycho-therapeutische Gespräche an. Ob die Behandlung in der Klinik oder ambulant fortgesetzt wird, hängt davon ab, wie hoch das Suizidrisiko des Patienten eingeschätzt wird.
Wichtige Elemente der Behandlung sind zum Beispiel:
- Risikofaktoren wie problematische soziale Kontakte oder Drogenkonsum werden möglichst ausgeschaltet.
- Die engmaschige Überwachung der Patienten wird sichergestellt, so dass sie keinen Zugang zu potenziellen Suizid-Werkzeugen wie Waffen oder Medikamenten haben.
- Manchmal sind Psychopharmaka angezeigt, um eine zugrundeliegende psychische Erkrankung zu behandeln.
- Manche Therapeuten schließen einen Nicht-Suizid-Vertrag mit dem Patienten ab. Dieser willigt damit in die Behandlung ein und erklärt, sich während der Therapie nichts anzutun. Dieser Vertrag ist natürlich nicht rechtlich bindend, stärkt aber das Vertrauensverhältnis und die Compliance – also die Bereitschaft des Patienten, aktiv an der Behandlung mitzuwirken.
- Suizidalen Patienten fehlt oft eine feste Tagesstruktur, die ihnen im Alltag Halt gibt. Teil der Behandlung sind deshalb oft konkrete Strukturierungshilfen etwa in Form von gemeinsam erarbeiteten Tagesplänen.
- Verhaltenstrainings können den Patienten helfen, ihre Emotionen zu regulieren und Konflikte besser zu bewältigen.
- Mit Selbstsicherheitsübungen und Kommunikationstraining lassen sich die sozialen Kompetenzen der Patienten verbessern.
- Kognitive Therapieverfahren zielen darauf ab, den dysfunktionalen Denkstil zu verändern, der von Hoffnungslosigkeit, Selbstabwertung, Grübeln und negativer Zukunftsbewertung geprägt ist.
ASSIP - Kurztherapie nach einem Suizidversuch
Ein Forschungsteam der Universität Bern um Dr. phil. Anja Gysin-Maillart hat eine Kurztherapie für Menschen nach einem Suizidversuch unter dem Namen „Attempted Suicide Short Intervention Program“ (ASSIP) entwickelt, die auf die speziellen Bedürfnisse dieser Menschen zugeschnitten ist.
Im Rahmen einer Weiterbildung hatte ich die Gelegenheit, von Frau Dr. Gysin-Maillart mehr darüber zu erfahren, wie diese Therapieform im Detail gestaltet und im klinischen Alltag eingesetzt wird.
Die Inhalte der Kurzzeittherapie, die grundsätzlich aus 3 (manchmal 4) Therapiesitzungen sowie einem anschließenden Briefkontakt (alle 3 – 6 Monate) für die Dauer von 2 Jahren besteht, können Sie im Überblick dieser Grafik entnehmen:
ASSIP ist als Ergänzung und nicht als Ersatz einer längerfristigen Therapie gedacht. Der Fokus liegt bei der Geschichte des Suizidversuchs. Es werden die Hintergründe der suizidalen Krise geklärt und anschließend Strategien zur Vorbeugung weiterer Krisen erarbeitet.
Zur Wirksamkeit des ASSIP-Konzepts konnte Frau Dr. Gysin-Maillart aufgrund vorliegender Studien berichten, dass sich bei den danach behandelten Patientinnen und Patienten das Risiko für einen erneuten Suizidversuch um bis zu 80% verringerte.
Derzeit wird diese Kurzzeittherapie in Deutschland im Universitätsklinikum Frankfurt / Main angeboten. Die Nachfrage bei Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen lässt erkennen, dass weitere Kliniken sicher folgen werden. Ein Erfahrungsbericht vermittelt Ihnen einen Eindruck davon, wie ein Patient die Arbeit mit dieser Kurzzeittherapie erlebte.
Für die weitere Beschäftigung mit der Thematik möchte ich Ihnen noch einige Materialien / Links zur Verfügung stellen.
Audiobeiträge hier auf der Homepage
"Vertrauensvoller Umgang mit suizidgefährdeten Menschen" (Sendung des Deutschlandfunks)
"Suizid verhindern - Was Fachkräfte und Laien tun können" (Sendung des SWR 2)
https://www.freiraum-psychologische-beratung.de/index.php/informationsmaterial/audiodateien
Videobeiträge
Playlist mit Vorträgen und Dokumentationen in meinem YouTube-Kanal:
Playlist: "Stefan Lange liest: SUICIDE"
Playlist: "Komm, lieber Tod"
Projekte
- Online-Programm für Hinterbliebene "Hilfe nach Suizid": https://www.hilfe-nach-suizid.de
- "Freunde fürs Leben": https://www.frnd.de
- Online-Beratung für junge Menschen: https://www.u25-berlin.de/
- Information und Austausch für Menschen, die von Suizid betroffen sind: https://www.treesofmemory-ev.com/